Vor einigen Tagen las ich drüben bei @snoopsmaus den Artikel “Wenn der Osten (Edit: Sachsen müde lächelt…“, in dem es im Kern um das G8- bzw. G9-Abitur geht.

Mich dieser Diskussion anzuschließen würde den Rahmen der Kommentarfunktion sprengen, denn im Prinzip geht es um wesentlich mehr, nämlich um die Frage:

Ist das deutsche Bildungssystem in seiner jetzigen Form überhaupt den künftigen Anforderungen gewachsen?

Meine Antwort lautet: NEIN!

Allein die dortige Diskussion zeigt, wie dringend das Bildungssystem reformiert werden muss.

Anlässlich der steigenden Zahlen von Abiturienten und Studierenden, die im aktuellen Bildungsbericht 2012 genannt werden, verfällt die Politik geradezu in völliger Euphorie und feiert ihren “richtigen Bildungsweg”, dabei ist dieser Anstieg stark durch die doppelten Abiturjahrgänge und den Aussetzen der Wehrpflicht bzw. des Zivildienstes beeinflusst worden.

Die 19% der Schülerinnen und Schüler1, die eine schwache Lesekompetenz besitzen, werden kurzerhand ausgeblendet. Das innerhalb dieser Gruppe der Anteil derer mit niedrigem sozialökonomischen Status und Migrationshintergrund besonders häufig vertreten ist, offenbart den desolaten Zustand unseres Bildungssystems.

Der Ausgabenanteil von 6,9% des Bruttoinlandproduktes (BIP)2, der deutlich zu niedrig ist, zeigt den Stellenwert dieser Regierung, den sie der Bildungspolitik einräumt.

Ein weiteres Problem sehe ich auch bei den Zeitverträgen im öffentlichen Dienst, dessen Anteil 2010 im Bildungsbereich bei 15% und an Hochschulen sogar bei 47% lag3.

In den folgenden Abschnitten, die sich dabei an dem Schema “Bildungsorte und Lernwelten in Deutschland” von Seite XI des aktuellen Bildungsberichts 2012 orientieren, werde ich meine Sichtweise darlegen.

Elementarbereich – Kindertageseinrichtung

Wir alle wissen, dass ab August 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für 1- und 2-jährige Kinder besteht. Das Betreuungsgeld, dass eine staatliche Leistung darstellt, um eine eine andere staatliche Leistung nicht in Anspruch zu nehmen, widerspricht den oben genannten Anspruch völlig.

Gerade die ganztägige Betreuung ihrer Kinder bedeutet für die Mütter ein Wiedereinstieg in den Beruf. Im Osten Deutschlands ist das aufgrund der DDR-Vergangenheit ganz natürlich und so wundert es kaum, dass dort der Anteil der Kinder zwischen 3 Jahren und dem Schuleintritt bei 70% liegt, im Westen dagegen nur bei 30%4.

Jetzt werden vielleicht einige Mütter anmerken, dass sie ihre Kinder selbst betreuen wollen, denn die Krippenbetreuung wirke sich negativ auf die “sozioemotionale Kompetenz” aus, führe zu dissoziales Verhalten und anormaler Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Ihnen sei gesagt, dann betreut Eure Kinder selbst, aber hört auf die Krippenbetreuung schlecht zu reden.

Sie sollten nicht vergessen, dass die Entwicklung der Kinder im wesentlichen von der fachlichen und sozialen Kompetenz der Erzieher abhängt, sich die Qualität der Kinderbetreuung positiv auf die kognitive Entwicklung, die Sprachentwicklung und vorschulischen Fähigkeiten auswirkt (NICHD-Studie von 2003).

Es zeigt sich aber auch, dass Problemverhalten der Kinder in unmittelbarer Beziehung zum sozioökonomischen Status der Familie und der Sensivität der Mutter stehen. Das Bildungsniveau spielt eine ganz wichtige Rolle.

Ich selbst war in der ehemaligen DDR in der Kinderkrippe bzw. Kindergarten und bin definitiv nicht verhaltensauffällig geworden, wenn man mal vom Job bei der Bahn absieht ;-)

Ich denke gerade Kinder aus der Krippenbetreuung verfügen über eine weitaus größere soziale Kompetenz, da sie mit Kindern unterschiedlichster ethnischer Herkunft zusammenkommen.

Das Sicherstellen einer hohen Qualität über den gesamten Bildungsweg (Kindergarten – Hochschule) ist Voraussetzung dafür. Ebenso ein hoher Ausbildungsstandard der Erzieher sowie deren Bezahlung.

Kitaplätze sind deshalb verstärkt auszubauen, um den Familien eine tatsächliche Wahlfreiheit zu ermöglichen. Nicht zu vergessen ist auch, dass sich Eltern über Gebühren jährlich mit etwa 2,7 Mrd. € an der Finanzierung der Kindertageseinrichtungen beteiligen5.

Primar- und Sekundarbereich I – Grund-, Real- und Hauptschule, Gymnasium

Ich besuchte im Osten die Polytechnische Oberschule (POS), von der Klasse 1 bis 10. Fertig, so einfach kann das Leben sein.

Nach der Wende wurden wir “Ossis” leider bildungspolitisch in das Mittelalter zurückgeworfen. Klares Indiz ist für mich, auch wenn ich jetzt einige oder alle gegen mich aufbringe, Euer drei- bzw. viergliedriges Schulsystem. Es wird immer wieder kritisiert, dass es soziale Ungleichheit zementiere und sehr früh Schüler selektiere.

Der Erwerb von Fähigkeiten hängt stark von der sozialen Herkunft und der besuchten Schulform ab. Aus diesem Grund ist m.E. das eingliedrige Schulsystem deutlich von Vorteil, weil hier der soziale Status völlig irrelevant ist und alle Schüler gleich behandelt werden.

Die Schüler in der Klasse müssen sich als Team verstehen, sich respektieren und sich gegenseitig unterstützen. Leistungsstarke Schüler helfen leistungsschwache Schüler, wodurch nicht nur die soziale Kompetenz gefördert wird, sondern auch das gegenseitige Verständnis für unterschiedlichste Kulturen und respektvollen Umgang miteinander. Für eine multikulturelle Gesellschaft sind diese Fähigkeiten unabdingbar.

Zumindest war es während meiner Schulzeit so, dass wir uns gegenseitig geholfen haben, wenn einer etwas vom Stoff nicht verstanden hat.

Dabei fällt mir ein, dass ich einen bedeutend besseren Schulabschluss hätte haben können. Das lag aber nicht an den Lehrern oder nicht verfügbares Wissen in Form von Büchern, die sich zu Hause massenweise auftürmten, nein, es lag einfach nur an meiner Faulheit.

So war es auch nicht verwunderlich, dass ich eines Tages einen Zettel über dem Bett geklebt vorfand, auf dem mir meine Mutter den Spruch schrieb:

Nur wer sich selbst überwindet, erreicht sein Ziel!

Wie recht meine Mutter damit hatte, sollte sich später während meines Fachabiturs herausstellen. Das nur am Rande.

Um eine hohe Unterrichtsqualität sicherzustellen, sollten die Klassenstärken auf 15 bis 20 Schülern begrenzt bleiben. Des weiteren sind Lehrmethoden bzw. Lehrmittel den neuen Entwicklungen anzupassen. Das erfordert von den Lehrkräften ein außerordentlich hohes Maß an Flexibilität.

Um den künftigen Bedarf an Lehrkräften zu decken, müssen Quereinsteiger einen erheblich leichteren Zugang in das Bildungssystem erhalten. Eine hohe fachliche Qualifikation muss auch bei diesen Kräften ein wichtiges Kriterium sein. Allein der Umstand, dass 48% der Lehrkräfte im Schulwesen 50 Jahre und älter6 sind, verleiht dieser Angelegenheit eine enorme Brisanz.

Neben dem Vermitteln von Wissen müssen die Schüler zum selbständigen Arbeiten angehalten werden. Hier spielt u.a. die außerschulische Bildung eine tragende Rolle; sie kann durch Schulbibliotheken, Horte, Vereine etc. erfolgen.

Sekundarbereich II – Gymnasiale Oberstufe

Wie ich eingangs bereits erwähnte, halte ich die Diskussion G8 oder G9 für völlig überflüssig. Das Abitur in zwei Jahren zu erwerben, sollte eigentlich für jeden zu schaffen sein. Ausreden der Eltern, dass das Pensum zu hoch sei, lasse ich nicht gelten.

Um es klarzustellen, das Abitur soll auf ein Hochschul- bzw. Universitätsstudium vorbereiten. Daher sollte für jeden Abiturienten nicht nur ein Zeitmanagement, sondern auch ein gewisses Maß an Selbstdisziplin und Opferbereitschaft zur Pflicht werden. Wer sich über zu geringe Freizeitaktivitäten beklagt, sollte vielleicht seine Prioritäten zum Abitur überdenken.

Jeder Abiturient muss sich darüber im Klaren sein, dass das Lehrtempo und vermittelte Wissen an der Uni/Hochschule vielfach höher, erheblich anspruchsvoller und wesentlich intensiver ist. Aus diesem Grund werden ihnen Vorbereitungskurse angeboten, um sie auf das erforderliche Wissensniveau zu bringen, sie ersetzen jedoch keine eklatanten Wissenslücken. Wer hier Defizite besitzt, sollte sich an dieser Stelle entweder eine gute Nachhilfe besorgen oder darüber nachdenken, ob das Studium das Richtige für ihn ist.

Um auf den Spruch zurückzukommen, ich habe mein Fachabitur neben dem unregelmäßigen Wechseldienst als Lokführer gemacht und der Spaß hat vier Jahre plus ein fünftes Jahr für einen zweiten Technikerabschluss gedauert. Ich hatte so manches Mal die Schnauze gestrichen voll, wenn ich mich nach der Nachtschicht zwang Hausaufgaben zu machen. Aber da muss jeder durch und den Arsch zusammenkneifen.

Fünfmal im Jahr trafen wir uns für eine Woche zum Präsenzunterricht, um uns Lehrinhalte anzueignen und Klausuren zu schreiben. Und ja, für den Zeitraum des Fachabiturstudiums mussten sich auch unsere Freizeit- und Familienaktivitäten auf das Notwendigste beschränken, anders wäre es nicht zu schaffen gewesen.

Am Ende zählt nur das Ergebnis: Bestanden mit 1,7. Noch Fragen?

Auf den Abiturienten kommt ein enormes Lernpensum zu, welches sich am Besten in Lerngruppen bewältigen lässt. Hier kommt die Sozialkompetenz zum tragen, die ich in den vorangegangenen beiden Abschnitten sooft erwähnte.

Das auch während des Abiturs vielfältige Möglichkeiten des Wissenserwerbs in einer hohen Qualität bereitzustehen haben, dürfte als logisch erachtet werden.

Damit komme ich zum letzten Abschnitt.

Tertiärer Bereich – Universität und Hochschule

Hauptproblem ist meines Erachtens nach das zunehmend modularisierte Studium, welches das reflektierte Lernen, das Wissen in eine persönliche neue Form zu aggregieren, immer mehr zum bloßen Auswendiglernen für die Prüfung verkommen lässt.

In einer komplexen globalen Welt reicht es nicht aus, über Kenntnisse zu verfügen und Praktiken zu beherrschen, dieses Wissen muss man auch anwenden können. Wer aus diesen Zeilen “Wilhelm Meisters Wanderjahre” (Goethe) heraushört, darf sich geehrt fühlen, er besitzt die Gabe, Informationen zu vernetzen.

Zwar rühmt sich die Bundesregierung, dass immer mehr Abiturienten ein Studium aufnahmen, Frauen 57% und Männer 57%7, doch dem steht eine Abbrecherquote von ca. 28%8 gegenüber. Auch in diesem Bereich weist der Bildungsbericht darauf hin, dass der Bildungsstatus der Eltern einen erheblichen Einfluss auf die Studienentscheidung hat.

Von 100 Kindern, deren Eltern selbst studiert haben, nahmen 2009 77 ein Studium auf, während es bei Kindern, deren Eltern einen Hauptschulabschluss haben, nur 13 waren.

Dieses krasse Missverhältnis ist die logische Konsequenz der Unzulänglichkeit des dreigliedrigen Schulsystems. Daher kann meiner Meinung nach nur das eingliedrige Schulsystem diesen Nachteil beseitigen.

Damit alle Universitäten und Hochschulen einen hohen Qualitätsstandard aufrecht erhalten können, sowohl was fachliche Kompetenz der Lehrkräfte als auch der technischen Ausstattung anbelangt, sollten sie stärker finanziell unterstützt werden. Das Finanzieren von Eliteuniversitäten halte ich für kontraproduktiv, denn es fördert zunehmend elitäres bzw. egoistisches Denken. In diesem Land sollte es eigentlich zum guten Ton gehören, dass alle unsere Universitäten und Hochschulen zur Elite, zu führenden in der Welt gehören würden.

Studiengebühren sind generell abzuschaffen, denn die einzige Aufgabe eines Studenten muss darin bestehen, zu lernen und zu studieren, nicht jedoch sich Gedanken darüber zu machen, wie er die kommenden Semestergebühren bezahlen soll. Sicher auch einer der Gründe, weshalb ein Studium abgebrochen wird.

Deprimierend, anders kann ich es nicht nennen, ist der verschwindend geringe Anstieg der Studienanfänger, die ohne eine schulische Studienberechtigung über den Dritten Bildungsweg 2010 ein Studium aufnahmen. Er stieg auf beachtliche 2%9.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer ein Studium neben dem Beruf ist. Nach Erreichen der Fachhochschulreife, wollte der verbliebene “harte” Kern an der FH Erfurt “Regionale Verkehrsplanung” studieren. Der Vorteil dieses Studiums, zwei Jahre wären uns wegen fachlich gleichgelagerten Fächern erlassen worden.

Statt die Idee aufzugreifen und mit uns Studenten ein funktionierendes, unkompliziertes Fernstudienkonzept zu erstellen, musste erst das Landeskultusministerium und andere Verantwortliche bemüht werden, ob derartiges überhaupt realisierbar wäre. Die sitzen wahrscheinlich heute noch daran und brüten über die Machbarkeit.

Ein Grund mehr, dieses starre und unflexible Verwaltungsmonster abzuschaffen. Für uns, die im Arbeitsprozess stehen, war an dieser Stelle Schluss, da ein Studium nur in Teilzeit zu realisieren war. Zwei Jahre später lief dann auch die Anrechenbarkeit der Studienfächer auf das Studium ab.

Deshalb müssen alle Vollzeitstudiengänge der Universitäten/Hochschulen auch als Fernstudium angeboten werden. Zumindest sollten Sie entsprechende Lehrmaterialien bereithalten.

Resümee

Das heutige durchmodularisierte und industriell orientierte Bildungssystem lässt Schülern und Studenten kaum Freiraum das angeeignete Wissen zu verarbeiten und in eine persönlichkeitsbereichernde Form zu transformieren. Es degradiert uns zu Wissensbehältern, die Wissen aufnehmen und es auf Knopfdruck wieder heraussprudeln lässt, ohne es jemals in Kontext mit anderen Informationen gesetzt zu haben.

Diese gravierenden Defizite können nur durch eine tiefgreifende Reform erfolgen, die

  1. die Bildungsverantwortung in die Hand des Bundes legt, indem der Bildungsförderalismus abgeschafft wird,
  2. die hohe Bildungsqualität sicherstellt, indem ausreichendes, fest angestelltes und gut bezahltes Personal vorhanden ist,
  3. jedem einen Zugang zu Bildung verschafft, indem die Finanzierung des Bildungssystems mit einem kontinuierlichen Festbetrag, unabhängig von wirtschaftlichen Schwankungen, erfolgt,
  4. flexible und unkonventionelle Lehrmethoden zulässt und entwickelt, die schnell auf veränderte wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Gegebenheiten reagieren können, um so dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken sowie
  5. das modularisierte und industriell dominierte Lernen und Studieren abschafft, indem es den Lernenden den Zeit- und Leistungsdruck nimmt und ihnen eine tiefere geistige Auseinandersetzung mit dem Lehrinhalten ermöglicht.

Im Land der Dichte und Denker ist Bildung ein hohes Gut, diesen Schatz dauerhaft zu bewahren und alle, unabhängig vom finanziellen und gesellschaftlichen Status, daran teilhaben zu lassen, muss erklärtes Ziel einer weitsichtigen und zukunftsorientierten Bildungspolitik sein. Nur so kann sich eine freie, respektvolle und soziale Gesellschaft entwickeln.

Update: Noch ein Wort zur PISA-Studie, ich betrachte solche Studien in der Regel sehr kritisch, zumal die Daten für die länderübergreifenden Schulformvergleiche von der KMK nicht öffentlich zugänglich gemacht werden. Soviel zu Open Data.

  1. Bildungsbericht 2012, S. 9 ; zurück
  2. Bildungsbericht 2012, S. 36 ; zurück
  3. Bildungsbericht 2012, S. 35 ; zurück
  4. Bildungsbericht 2012, S. 57 ; zurück
  5. Bildungsbericht 2012, S. 54 ; zurück
  6. Bildungsbericht 2012, S. 6 und 83 ; zurück
  7. Bildungsbericht 2012, S. 6 und 83 ; zurück
  8. Bildungsbericht 2012, S. 133 und S. 301 Tab.F3-1A ; zurück
  9. Bildungsbericht 2012, S. 127 ; zurück